Siemsen, nicht Siemens!
„Der Mensch lebt, um Gemeinschaft zu verwirklichen und sich in ihr. Er lebt deshalb für und durch die Gemeinschaft, und jede Erziehung kann nur in ihr, für und durch sie geschehen. Erziehung und Politik fallen vollständig zusammen. Es gibt außerhalb der Politik keine Erziehung, ja nicht einmal die Möglichkeit der Erziehung.“
(Anna Siemsen: Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung, 1948, S.12)
„Durch die Dichtung den Kindern den Zugang in die Wirklichkeit zu öffnen […] Darstellungen der Dinge, die heute für uns im Vordergrund stehen sollten: der Kämpfe um Recht, um Freiheit und Frieden, damit die Kinder und Jugendlichen lernen, über die Grenzen ihrer Heimat, ihres Staates, ihrer Klasse hinaus zu sehen und zu erkennen, wie sehr wir heute in Europa ja wohl auf der ganzen Erde in einer ganz entscheidenden Phase des Kampfes stehen um eine übernationale, wahrhaft soziale und wahrhaft demokratische Ordnung.“
(Anna Siemsen in: Schola, Monatsschrift für Erziehung und Bildung, 1947, S. 299)
Der Hörsaal unserer Fakultät ist seit 2005 nach Anna Siemsen benannt. Doch wer war Anna Siemsen überhaupt und was können wir von ihr lernen?
Anna Siemsen wurde am 18.1.1882 bei Hamm geboren und wuchs als Tochter eines Pfarrers auf. Wie ihr Bruder August Siemsen in ihrer Biographie schreibt, entwickelte sie in ihrer Jugend über die Literatur, die
sie neben der Schule las, ein ausgeprägtes Verständnis von Solidarität – insbesondere im Sinne des Parteiergreifens für die „schwächeren“ literarischen Charaktere. Im Rahmen der für die Familie prägenden
Institution Kirche spielte Wohltätigkeit auch praktisch eine Rolle – explizit
politisch war die Familie allerdings nicht. Dies änderte sich insbesondere durch den Ersten Weltkrieg. Bei dessen Beginn 1914 waren die Siemsens
zwar keine begeisterten „Hurrapatriotinnen“, meldeten sich jedoch aus Pflichtgefühl dem Staat gegenüber großteils freiwillig zu Kriegsdiensten. Allerdings durchschauten die gebildeten Geschwister Siemsen bald die Lügenpropaganda des Deutschen Reiches und standen dessen Eroberungsforderungen mit Ablehnung gegenüber. Auch aus der Kirche traten sie wegen deren nationalistischmilitaristischen Position aus. Die realen Erfahrungen des Krieges machten Anna Siemsen zur entschiedenen Pazifistin: 1917 veröffentlichte sie im pazifistisch orientierten Literaturmagazin „Die weißen Blätter“ einen Aufsatz gegen Max Schelers Kriegsphilosophie und wurde als Kriegsgegnerin unter polizeiliche Überwachung gestellt. Nach dem Krieg wurde sie von den belgischen Besatzungsbehörden unter dem Verdacht, kommunistische Propaganda verbreitet zu haben, verhört.
Trotz derartiger Repressionsmaßnahmen übernahm Anna Siemsen später verschiedene offizielle Ämter im Bildungsbereich. Nachdem sie 1910 das Staatsexamen als Lehrerin abgelegt hatte, arbeitete sie im Folgenden als Gymnasiallehrerin und war gleichzeitig politisch aktiv. So übernahm sie beispielsweise 1910 in Bremen im Kampf um bessere Gehälter für Lehrerinnen und für die Verstaatlichung von Privatschulen eine führende Rolle. Des Weiteren engagierte sie sich friedenspolitisch sowie in sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sie verschiedene Ämter in der Reform des Berufs- und allgemeinen Schulwesens sowie eine Pädagogik-Professur inne, bis sie aus politischen Gründen zuerst durch eine rechte Regierung in Thüringen ihres Amtes, später durch die NSDAP-Politik ihrer Professur enthoben wurde.
Nachdem sie von den Faschistinnen ausgebürgert worden war, ging Anna Siemsen 1933 ins schweizerische Exil. Vor und während des Zweiten Weltkrieges verfasste sie von dort aus monatliche Übersichten über Aufrüstung und Kriegsgeschehen für die sozialistische Frauen- Zeitschrift „Die Frau in Leben und Arbeit“. Anna Siemsen positionierte sich in ihrer Gegnerinnenschaft zum Krieg mit deutlichen Worten gegen Kriegsgewinnlerinnen ihrer Zeit. Zur Erinnerung: Das namensähnliche Industrieunternehmen Siemens profitierte insbesondere ab 1933 von der Aufrüstung der Wehrmacht, Luftwaffe und Marine. Siemens beutete unter anderem in den KZs Auschwitz, Buchenwald und Ravensbrück Zwangsarbeiterinnen aus – so auch in den Außenlagern Helmstedt- Beendorf und Farge des KZ Neuengamme bei Hamburg. Während des gesamten Krieges waren mindestens 80.000 Zwangsarbeiterinnen allein für die Firma Siemens verpflichtet. Anna Siemsen reflektiert in ihren Werken, warum sich die damalige Erziehungswissenschaft dem Faschismus gegenüber als nicht ausreichend wirksam erwies. Mit ihrem sozialistischen Erziehungskonzept setzte sie sich zeitlebens für eine Erziehungswissenschaft ein, die ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt. Humanität und Persönlichkeit sind dabei wesentliche Stützen Anna Siemsens konzeptioneller pädagogischer Überlegungen: Eine humane Gesellschaft, also eine friedliche und gemeinsame Weltbevölkerung, aufbauend auf der Grundannahme der Wesensgleichheit aller Menschen, ist notwendige Grundlage der je spezifischen Entwicklung der Persönlichkeit. Aufgabe der Erziehung sei die Erziehung zur Menschlichkeit, also die Bildung des sittlichen und verantwortungsbewussten Menschen im Bewusstsein gesellschaftlicher Zusammenhänge. Auf dieser Grundlage könne die gemeinsame Gestaltung des Zusammenlebens erfolgen. Da Erziehung sowohl von der Gesellschaft, in der sie stattfindet, abhängt, als auch diese Gesellschaft selbst mit bildet, ist Erziehung politisch.
Für den Menschen als soziales Wesen ist Erziehung Eingliederung in die Gesellschaft: „Worauf es ankommt, das ist, welcher Art diese Gesellschaft ist, welchen erzieherischen Einfluss sie daher ausübt […]“. In diesem Zusammenhang setzte sich Anna Siemsen im ‚Bund entschiedener Schulreformer‘ für die strukturelle Umgestaltung des gesamten Erziehungswesens ein – beispielsweise durch die Einrichtung von Einheitsschulen. Diese ermöglichen, anders als beispielsweise das in Hamburg weiterhin bestehende Zwei-SäulenModell, Inklusion, so dass Persönlichkeitsbildung unabhängig von Herkunft erfolgen kann.
Anna Siemsen ging grundsätzlich von der Möglichkeit der bewussten und vernünftigen Gestaltung der Gesellschaft aus. Aufgabe von Erziehung beschränkt sich daher nicht auf die Anpassung von Individuen an die bestehende Gesellschaft, sondern soll dazu befähigen, selbst zu gestalten. Im Nachkriegsdeutschland wurde diese Chance vertan, als in einem nahezu nahtlosen Übergang auch vielfach durch die Unterstützung des Nationalsozialismus belastete Vertreterinnen der Erziehungswissenschaft übernommen wurden. Stattdessen wäre gerade nach dem Sieg der Alliierten über den Faschismus ein Neuanfang für die deutsche Nachkriegspädagogik notwendig gewesen. Es gab – wie das Beispiel Anna Siemsens zeigt – Pädagog*innen, die bereit und fähig waren, daran mitzuarbeiten. Sie lehrte von 1949 bis zu ihrem Tod 1951 am Pädagogischen Institut der Universität Hamburg.
Anknüpfend an ihre humanistische Bildungskonzeption liegt es heute in unserer Verantwortung, eine Studienreform voranzutreiben, die Bedingungen für die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verantwortung der (Erziehungs-)Wissenschaft schafft. So können wir gemeinsam die gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen, sie verändern und Erziehung und Bildung zur Menschlichkeit für uns und andere realisieren.
Wir, die Fachschaftsräte Lehramt und Erziehungswissenschaft, treffen uns in Raum 035a (VMP8). FSR Erzwiss: Mittwoch, 17 Uhr | FSR Lehramt: Siehe Facebook & Pinnwand. Kommt gerne vorbei!
-> www.fsr-erzwiss.de
-> fb.com/FSRLehramtUniHamburg